von Carla Wiggering – Kuratorin
Scheunen, Garagen, Durchfahrten und selbst die Bushaltestelle – die während der 17. Werkstattwoche in Lüben entstandenen Kunstwerke wurden nicht in neutralen Räumen geschaffen, sondern korrespondieren mit den historischen Orten des Rundlingsdorfs. Seit mehr als 34 Jahren begeistert das Konzept der Werkstattwoche die Menschen in der Region und darüber hinaus. Es stellt eine wertvolle Brücke zwischen Kunstförderung und kultureller Bildung dar, die abseits der großen deutschen Kunstzentren Kunstschaffende, Kunstinteressierte und eine breite Öffentlichkeit zusammenbringt. Die Künstlerinnen und Künstler schaffen nicht nur vor Ort Kunst, sondern sind für eine kurze Zeit Teil einer Gemeinschaft – erleben und leben diese. Dieser kreative Austausch schlägt sich eindrucksvoll in den Kunstwerken nieder, die am 5. und 6. Juli 2025 verteilt über das Gelände in Lüben präsentiert wurden.
Für diese Ausgabe der Werkstattwoche Lüben sind 20 Kunstschaffende aus zehn Ländern zusammengekommen, um eine Woche lang gemeinsam zu arbeiten, zu essen, sich auszutauschen und Bekanntschaften zu knüpfen. Angeregt von dieser Umgebung nutzten viele Künstlerinnen und Künstler neue Ansätze, die sie zuvor nicht verfolgt hatten. In ihren Werken greifen sie auf verschiedenste Materialien, Techniken, Perspektiven und Themen zurück, um ihre künstlerischen Ideen umzusetzen. Eine Vielfalt, die die diesjährige Werkstattwoche besonders machte. Von Malerei über Skulpturen und Installationen bis zu den vielfältigen Möglichkeiten der digitalen Kunst und den körperlichen Ausdrucksformen der Performance – die entstandenen Arbeiten ermöglichen vielschichtige Einblicke in das breite Spektrum der Kunst, fordern uns heraus und laden uns ein, neue Sichtweisen zu entwickeln.
Was ist der Körper? Wo sind seine Grenzen? Und wie interagiert er mit der Umwelt? Angeregt von der Landschaft Lübens beschäftigten sich viele Künstlerinnen und Künstler mit diesem Thema und entwickelten kritische Perspektiven auf die Mensch-Natur-Beziehung. Insbesondere posthumanistische Ansätze, die den Menschen als Teil der Natur begreifen und nicht-menschlichen Akteurinnen und Akteuren Raum geben, prägen die Arbeiten und ermöglichen nicht nur einen spezifischen Blick auf die Gegenwart, sondern beziehen ebenso die Zukunft ein.
Die raumspezifischen Arbeiten, welche sich mit den lokalen Gebäuden und Gegenständen auseinandersetzen, begeisterten die Besucherinnen und Besucher gleichermaßen. Sie fokussieren sich auf unscheinbare Details in ihrer direkten Umgebung, die selten Beachtung finden: alte Holztüren, geschwungene Schriftzüge an den Häusern, schwere landwirtschaftliche Geräte oder die markanten Konstruktionen der Fachwerkhäuser. Die Kunstschaffenden greifen die dörflichen Strukturen und die vor Ort vorhandenen Gegenstände auf, welche als Spuren vergangener Zeiten, der landwirtschaftlichen Arbeit und des Lebens überdauern. Vom spielerischen Umgang mit diesen gefundenen Objekten über die präzise Auseinandersetzung mit spezifischen Elementen der Architektur Lübens spiegeln die entstandenen Kunstwerke die verschiedenen Interessen der Künstlerinnen und Künstler wider.
Wieder andere Kunstschaffende betrachten in ihren Arbeiten die komplexen Beziehungen zwischen Identität und Erinnerungen. Wodurch werden wir an vergangene Ereignisse erinnert? Wie prägen diese uns? Und wie werden sie von unserem Konsum digitaler Bilder und Nachrichten beeinflusst? Die entstandenen Werke sind von persönlichen Erfahrungen geprägt, die Perspektiven auf gesellschaftliche Prozesse ermöglichen, die uns gegenwärtig umgeben.
Wie sich unsere Wahrnehmung in einer Welt verändert, die verstärkt von Maschinen, Algorithmen und digitalen Plattformen geprägt wird, ist nicht nur medial in den Nachrichten und den Diskussionsrunden präsent, auch einige Künstlerinnen Künstler der diesjährigen Werkstattwoche setzten sich mit diesen Themen auseinander und ließen digitale Werkzeuge in die Produktion ihrer Kunstwerke einfließen.
Neben theoretischen Diskussionen zu spezifischen Themen stellen für viele Kunstschaffende der persönliche Alltag und die Erlebnisse aus ihrem Umfeld eine Inspiration dar. Sie schöpfen aus den Beziehungen zu anderen Menschen, den Objekten in ihrer Umgebung oder Ereignissen, mit denen sie unerwartet konfrontiert werden oder die sie beiläufig wahrnehmen. Aus dem Individuellen schaffen sie Bilder der kollektiven Erfahrung, die durch poetische, humorvolle wie ernsthafte Ansätze zum Nachdenken anregen.
Im Rahmen der diesjährigen Werkstattwoche befassten sich die Kunstschaffenden mit aktuellen, gesellschaftlichen Themen, die viele Menschen beschäftigen. Sie setzten sich inhaltlich mit der Mensch-Umwelt-Beziehung, Fragen zur eigenen Identität, Transformationsprozessen, Technologisierung, Wahrnehmung im physischen und digitalen Raum sowie konkreten Empfindungen auseinander. Dabei stellten sie sich folgende Fragen: Was macht uns aus? Welche Themen beschäftigen uns individuell und gesellschaftlich? Wie möchten wir die Zukunft gestalten? Und wie erinnern wir uns an die Vergangenheit?
Die abschließende Ausstellung der 17. Werkstattwoche Lüben stellte eine Plattform für diese junge, zeitgenössische Kunst dar und bot zudem einen Ort des Gesprächs und der Erfahrung von kreativen Prozessen – sowohl zwischenmenschlich als auch in der Gegenüberstellung der Kunstwerke. Hat doch jede Künstlerin und jeder Künstler eine eigene Handschrift, lässt sich der Einfluss ihrer Umgebung und ihrer kurzzeitigen Gemeinschaft in den Werken wiederfinden. Im Zeichen des Dialogs spiegelte die Ausstellung diese Verbindungen zwischen Dorf, Landschaft und Künstlerinnen und Künstler wieder.
Erweitert wurde die diesjährige Werkstattwoche um ein breites Vermittlungsprogramm, das verschiedene Altersklassen begeisterte. Ausgerichtet von der Young Generation des Kunstmuseum Wolfsburg fanden inspirierende Workshops wie Graffiti-Kurse, ein Aktzeichenkurs und ein Fotografie-Kurs statt, die das Interesse vieler Besucherinnen und Besucher weckten.
Viel Freude bereitete zudem der Universitätstag »Art Inspires« am 2. Juli 2025, der in Kooperation mit der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig stattfand und viele Studierende und Schülerinnen und Schüler nach Lüben brachte. Kurze Vorträge von verschiedenen Rednerinnen und Rednern, wie zum Beispiel der gebürtigen Lübenerin Inka Drögemüller, Deputy Director for Audience Engagement am Metropolitan Museum of Art, New York, gaben wertvolle Einblicke in die Kunst und Internationale Kulturszene. Die Führungen am Wochenende komplettierten das Programm und ermöglichten eine vertiefende Auseinandersetzung mit den präsentierten Kunstwerken. Eine Synergie zwischen Kunst und Vermittlung, die die Werkstattwoche Lüben für die Kunstschaffenden, die Dorfgemeinschaft und die Besuchenden einzigartig macht!
Carla Wiggering, Kunsthistorikerin und Ethnologin, ist wissenschaftliche Volontärin am Kunstmuseum Wolfsburg. Sie beschäftigt sich mit Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart und erhielt 2022 den Cellini-Master-Preis. Bei der Werkstattwoche Lüben 2025 war sie als Kuratorin tätig.
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